Immun gegen Leid

Impfen ist die Lösung. Wer sich gegen Corona impft, schützt sich anscheinend gegen die Wahrnehmung komplexer Probleme. Patienten mit anderen Krankheiten verlieren ihren Anspruch auf professionelle Hilfe.

Wieviel Egoismus erlaubt eine Gesellschaft? Unsere Gesellschaft kann sehr großzügig sein. Die Superreichen, die jetzt ins Weltall aufbrechen, frönen einem bisher nicht gekannten Egoismus. Sie verdeutlichen, indem sie ihre privaten Raketen zünden, ihr spielerisches Verhältnis zur Welt. Souverän erheben sie sich über die Menschen mit ihren Problemen. Diese Egoisten sind reich. Reicher als die meisten Staaten. Die Helden der Spaßgesellschaft fürchten keine Kritik.

16 Millionen Menschen verhungern jedes Jahr. Diese Zahl scheint nur wenige Bürgerinnen der reichen Staaten zu beunruhigen.  Sie scheinen seit zwei Jahren nur eine Bedrohung zu kennen: Corona. Das Virus forderte seit März 2020 weltweit mehr als vier Million Tote. Ich rechne hier keine Opfer gegeneinander auf. Mir geht es um die Dimension der Probleme.

Indem sich die Menschen jetzt impfen lassen, scheinen sie sich auch gegen die Wahrnehmung anderer Leiden und Gefahren zu imprägnieren. Ich bekam das als Parkinsonkranker zu spüren. Die Klinik, die ich für drei Wochen aufsuchte, um medikamentös und mental gestärkt zu werden, war nicht in der Lage, mich den Richtlinien entsprechend zu behandeln. Einzig der Schutz vor dem Virus wurde ernstgenommen. Mein Leiden war zweitrangig. Nun ließe sich sagen, an Parkinson stirbt man nicht. Das stimmt zum Glück auch für den allergrößten Teil der am Virus Erkrankten.

Wir vereinfachen komplexe Probleme, um handlungsfähig zu werden. Kein Problem, solange wir nicht vergessen, worum es geht. Die Pandemie-Politik geht ein vielschichtiges Problem mit einem eindimensionalen Mittel an: der Impfschutz soll es richten. Und alle sind gehalten, mitzumachen.

Erst die mit Corona verbundene Moralisierung der Gesundheitspolitik, legt nahe, Menschen zum Impfen zu zwingen. Wer sich nicht impfen lässt, sei ein Egoist. Das schreibt sogar der kluge Karl Markus Gauß (SZ, 23. Juli 2021). In Wirklichkeit haften alle mit ihrem Leben.

Alle wissen, wer arm ist, leidet stärker unter der Pandemie. Aber eine vernünftige Sozialpolitik haben die Bekämpfer der Pandemie nicht auf dem Zettel. Von weitergehenden Zielen zu schweigen. Sogar die Journalisten der Zeit wagen mehr: Auf Seite eins der Zeit vom 22. Juli 2021 schreibt Bernd Ulrich, es komme darauf an, jetzt die Eingriffe in die unberührte Natur einzustellen. Das wäre der einzige Schutz gegen Mutationen.

Die Leute lassen sich aber impfen, um wieder in die Welt zu fliegen – und über die Atmosphäre hinaus – um aufregende und unbekannte Plätze zu erkunden und zu zerstören. Den Ruf des Zeit-Journalisten: Du musst dein Leben ändern, erreicht doch niemanden mehr.

Impfbereite werden zu Helden, Skeptiker zu Egoisten und Dissidenten. Und die Konsumenten der breaking news fühlen sich als Überlebende. Ohne einen Gedanken an die Armen zu verschwenden, die nicht annähernd so viele Lebensmittel zu essen haben, wie die Satten jeden Tag in den Abfalleimer werfen. Für die Hungernden gibt es selbstverständlich keinen Impfstoff.

So viel zu der in Deutschland gepflegten gesellschaftlichen Moral. Sie ist wertlos für Menschen, die sich um Menschlichkeit bemühen.

Autor: Stefan Moes